Rezeptions-Noema
These von Sylvia Witt (verfasst im generischen Femininum).
Es gibt drei Rezeptionen eines künstlerischen Werks, deren wichtigster Unterscheidungsfaktor die Nähe zur Kunstschaffenden
darstellt.
Das, was die Künstlerin selbst darin sieht, bildet die erste Ebene. Sie ist eine persönliche Black Box, nicht einsehbar für
die Außenwelt. Alles, was Künstlerinnen selbst über ihr Werk aussagen, ist bereits einer Zensur unterworfen und wird je nach
Ziel und Zweck der Äußerung modifiziert. In keinem Fall stimmt es mit den ursprünglichen Gefühlen und Gedanken bei der Planung
und Ausführung des Bildes vollständig überein. Die erste Ebene der Kunstrezeption bleibt somit eigen, individuell und monadisch.
Das, was Menschen, die der Künstlerin sehr nahe stehen, über das Werk denken, stellt die zweite Ebene dar. Sie deuten ihre
eigenen Gefühle und Gedanken in Hinblick auf die Künstlerin als den Menschen, den sie kennen. Doch kennen sie wiederum immer
nur einen Teil dieses Menschen, seine Rolle auf der alltäglichen Bühne. Facetten wie "die Schwester", "die beste Freundin",
"die Mutter", "die Eigensinnige", "die Langhaarige", "die Sanfte" oder "die Viellachende". Auf der zweiten Ebene fällt die
Interpretation daher primär persönlich aus und das selbst dann, wenn ein Werk z.B. eine eindeutig globale politische Aussage
haben mag.
Die dritte Ebene bildet das, was alle anderen rezipieren, wenn sie ein Werk sehen und dabei je nach Vorwissen die Äußerungen
des Künstlers, das Zeitgeschehen oder typische Elemente eines Stils oder einer Epoche miteinbeziehen. Diese Ebene ist naturgemäß
am weitesten verbreitet, am stärksten divers, aber leider auch am weitesten von dem entfernt, was die Schaffende tatsächlich im
Sinn hatte. Interpretationen, die als „wahr“ in die Kunstgeschichte eingegangen sind, sind lediglich Abbilder ihrer Zeit und des
stets unvollkommenen Wissens, das damals über die Schaffende verbreitet wurde. Sieger in der Evolution der Deutungen, die sich
wie Sehgewohnheiten und theoretische Paradigmen, mit den Jahrzehnten durchaus wieder wandeln können.
Es ist wie im Gleichnis "Die blinden Männer und der Elefant" – individuelle Erfahrungen führen zu eigenen Schlussfolgerungen,
die mitunter vollkommen unterschiedlich zu den Schlussfolgerungen anderer sein können.
Es ist leicht, bequeme Vorurteile, einfache Erklärungsmodelle oder das erstbeste, was einem plausibel erscheint, als die
Wahrheit zu bezeichnen. Der Realität kommt man nur durch die Mühe näher, sie von möglichst vielen Seiten zu beleuchten. Das
bedeutet auch, die eigene Rezeption plausibel verteidigen zu können. Sie ist ebenso individuell wie die Künstlerin und ihr Werk.
Statt sich einer womöglich fehlerhaften Mehrheitsmeinung anzuschließen, kann man sich auch erlauben, die eigene, gut begründete
Rezeption als gleichwertig zu anderen zu sehen.
Im übertragenen Sinn lässt sich diese Haltung abseits der Kunst auf alle Lebewesen ausweiten: Selbst wenn die Biologie das Leben
im Kollektiv oder mindestens im sozialen Miteinander vorsieht, bleibt doch jedes einzelne Lebewesen ein Individuum, das nicht
erst durch die Wahrnehmung anderer existiert. Somit ist jedes einzelne Lebewesen per se wertvoll. Es bedarf weder des
Zusammenschlusses noch der Zustimmung, auch wenn beides möglich und mitunter nötig ist.
Die Drei-Ebenen-Rezeption regt somit stets zum Selbstdenken und zum Respekt vor dem Individuellen an.
In der Konsequenz daraus ergaben sich nahezu zwangsläufig die "Heimlichen Werke".
Werke, die ohne weitere Rezipienten auskommen und allein für sich und die Erschafferin stehen. Werke, ausschließlich auf der
ersten Ebene der Rezeption. Werke ohne Bestand, möglichst nicht abgelichtet. Ohne Zuschauer.
Ein Geist der Freiheit, der erst kürzlich erstaunlicherweise von John Malkovich als Künstler Piers in der Schluss-Szene des
Films Die Kunst des toten Mannes ausgelebt wurde. Versonnen zeichnet ein vom Kunstgeschäft ausgelaugter Mann sich dort mittels
endloser Ornamente am Strand wieder frei. Nur für sich, und, auf der Metaebene, natürlich für das Publikum des Films, so dass
eine Ablichtung des Heimlichen gibt, von der die Filmfigur nichts weiß.